Unterhaltung

„Schwindel“ von Hengameh Yaghoobifarah: Ein Blick in die chaotische Welt moderner Beziehungen

2024-10-04

Stellen Sie sich vor, es ist ein aufregender Freitagabend und Sie finden sich auf einem Hochhausdach wieder, ausgesperrt mit Ihren drei romantischen Partnern. Die eine will nur ihr Handy holen, die zweite konfrontiert Sie mit drängenden Fragen und die dritte hat sich auf ein romantisches Date mit Ihnen eingestellt. Dies ist das packende Ausgangsszenario von „Schwindel“ und zugleich ein eindringlicher Blick in die (queere) Hölle der modernen Beziehungen.

Ein skurriles Figurenensemble

Das Buch präsentiert eine Vielzahl an faszinierenden Charakteren, allen voran die Hauptfigur Ava. Sie hat mit Bindungsängsten, einer Vorliebe für Cannabis und einer gewissen Sexsucht zu kämpfen. Während Ava sich als Opfer der Umstände sieht, werfen ihre Partnerinnen Delia, Robin und Silvia ihr schlechte Kommunikation und eine Ausweichhaltung vor. Delia ist non-binär und leidet unter Ängsten, während Robin sich als vermeintlich heterosexuell identifiziert und Silvia als Avas reifere Geliebte hervorsticht.

Gruppentherapie auf dem Dach

Was tun die vier in dieser ausweglosen Situation? Sie suchen zunächst nach Hilfe, doch als dies fehlschlägt, entwickelt sich das Ganze zu einer Art Gruppentherapie. Die Konversationen sind ebenso explosiv wie tiefgründig, gespickt mit Anspielungen auf Polyamorie und den Partyrausch von „Poppers“. Diese intensiven Dialoge machen es den Lesenden leicht, in die komplexen Emotionen und Verletzlichkeiten der Figuren einzutauchen.

Verwirrende Sprache als Ausdruck der Vielfalt

Die Widmung des Romans „Für all die Schwindelnden und die, die sie stützen“ verspricht bereits ein schwindelerregendes Leseerlebnis. Die Sprache des Buches ist provokant und unkonventionell: Sie spielt mit Form und Inhalt. Einige Seiten enthalten nur ein Wort, während andere in spiralförmigen Sätzen die Gedanken von Delia widerspiegeln. Diese Formulierungen bringen frischen Wind in das statische Setting und betonen die innere Unruhe der Charaktere.

Ava stellt eine provokante Frage zu Beginn: „Wonach schmeckt das Paradies?“ Ihre Antwort? „Nach Blue Gelato und Pussy.“ Solche expliziten Ausdrucksweisen durchziehen das gesamte Buch und spiegeln die rohe Realität und die Komplexität ihrer Beziehungen wider. Kritiker beschreiben Yaghoobifarahs Sprache oft als wenig zugänglich, übertrieben jugendlich und zu sehr anglizistisch.

Provokation als Markenzeichen

Hengameh Yaghoobifarah ist bekannt für ihre provokativen Äußerungen und spiegelt damit das Spannungsfeld wider, in dem sie sich bewegt. Auf ihrem Instagram-Profil bringt sie es treffend auf den Punkt: „love me or hate me, it’s still an obsession“. Ihre vorherige Kolumne in der taz, in der sie Polizisten im Kontext von #BlackLivesMatter mit Müll verglich, sorgte für Kontroversen und eine Anzeige durch die Polizeigewerkschaft. Doch sie ließ sich nicht einschüchtern und verteidigte ihre provokativen Thesen erfolgreich.

Ein einzigartiger Blick auf queere Realität

Yaghoobifarah schreibt nicht für das Feuilleton, und das bricht mit den gewohnten Leseerwartungen. Ihre Werke reflektieren die queeren und post-migrantischen Lebensrealitäten und schaffen Utopien jenseits der deutschen Mehrheitsgesellschaft. „Schwindel“ ist nicht bloß ein aufregendes Leseerlebnis, sondern provokante und tiefgründige Auseinandersetzung mit der vielfältigen Natur von Liebe und Identität im 21. Jahrhundert.